Fatti urbani* am See
Kulturareal Chemiefabrik Uetikon

Bauen im Bestand
Die ersten Schriften in der Geschichte wurden als Palimpsest auf Pergament geschrieben. Palin: „wieder“ und psaein: „abschaben“ – die Texte wurden immer wieder ausradiert und überschrieben, denn Schreibmaterial war kostbar. Ähnliches passiert in der Architektur: über die Jahrhunderte wurde der Baubestand immer wieder überschrieben.
Der Bestand wird zunehmend grösser, die Ressource Land immer knapper. Das Umdeuten von bestehenden Strukturen beschreibt künftig eine der Hauptaufgaben des Architekten. Darauf lassen wir uns ein. Dabei sollen die Bestandesbauten die Spuren legen und als Grundlage für etwas Neues dienen. Gerade überraschende Neuerungen sind oft auf den „Fundamenten“ von anderen Bauten oder durch Nutzungsänderungen bekannter Bauformen entstanden.

Chemiefabrik Uetikon
Unser Bauplatz ist das weitläufige Industrieareal der stillgelegten Chemiefabrik Uetikon. Gegründet im Jahr 1818 – zu einer Zeit, als der Umgang mit dem Ufer des Zürichsees durch Nutzungsansprüche bestimmt war – vergrösserte sich der Betrieb stetig auf neu aufgeschüttetem Land. Die natürliche Uferlinie wurde überformt und das neu geschaffene Territorium durch die Bauten und Infrastrukturen der Chemiefabrik ein erstes Mal „beschrieben“. Nach der Schleifung aller anderen Grossindustrieanlage am Zürichsee ist das Fabrikareal in Uetikon heute einzigartig.
Die Fahrt entlang der Seestrasse am rechten Ufer des Zürichsees führt durch einen gleichförmigen Siedlungsteppich, vereinzelte Zäsuren entstehen einzig an Stellen, wo die Strasse direkt an das Seeufer oder hangseitig an grüne Weinberge stösst. Umso überraschender der Strassenabschnitt in Uetikon: nach einer sanften S-Kurve wird die Strasse unversehens eng und führt mitten durch ein Fabrikareal. Der unvermittelte Szenenwechsel ist frappant und prägt sich jedem Reisenden ein. Die leeren Gassen zwischen den geschlossenen Fassaden der Fabrikgebäude mit ihren Hochkaminen strahlen eine suggestive Atmosphäre aus, welche an die aufgeladene Stille der Bilder eines Giorgio de Chirico erinnert. Dem Besucher bleibt überlassen, ob er darin die rätselhafte Stimmung der ‘pittura metafisica’ sieht oder eher die leere Filmkulisse einer Westernstadt, oder sich gar in einem Traum von Aldo Rossi wähnt. So suggestiv wie die Aussenräume ist auch das Innere der Bauten. Auch hier klingen Filmszenen an, und die grosse Halle des Düngerbaus hätte ohne weiteres als Hintergrund für die „Zone“ aus Tarkowskis Stalker dienen können.
Den Höhepunkt bildet aber die Vielfalt der Übergänge in der unmittelbaren Konfrontation der Bauten mit dem Seeufer. Die Fabrikgebäude stehen teilweise direkt an der Uferkante, dazwischen öffnen sich eng begrenzte Räume und lassen Durchblicke auf beide Seiten frei. Die räumliche Dichte erinnert eher an eine Stadt am Wasser, als an das heterogene Ensemble einer Industrieanlage.

Ein neues Kulturareal
Während das Dorfzentrum von Uetikon am See anders, als der Name es vermuten lässt, auf einem Plateau oberhalb eines schroffen Abhangs zum Zürichsee liegt, besetzt das Fabrikareal drei Viertel des Seeufers der Gemeinde. Der Seezugang ist für die Öffentlichkeit somit auf einen kleinen Teil beschränkt. Nach der offiziellen Stilllegung der Chemiefabrik im Jahr 2017 erwartet die Gemeinde nun ein gewaltiger Entwicklungsschritt. Ein gross angelegtes Planungsverfahren sieht die Ansiedlung einer Kantonsschule für 1500 Gymnasiasten, eines Wohnquartiers sowie eines Quartiers mit gemischter Nutzung. Diese unterschiedlichen Bereiche sind über einen Seeuferpark an den heutigen Hafen angebunden. In diesem schmalen, langgezogenen Parkstreifen besteht ein Konflikt zwischen der denkmalpflegerischen Erhaltung des Gebäudebestandes, der den Charakter des Ortes massgeblich prägt, und dem berechtigten Anliegen der Bevölkerung, das Areal zum See hin zu öffnen. Wir nehmen uns der anspruchsvollen Aufgabe an, dafür eine Lösung zu entwickeln. Im Widerspruch zwischen Erhalt und Wunsch nach freiem Ufer liegt denn auch die Herausforderung und zugleich der Reiz der Aufgabe. Wir erarbeiten einen eigenen gemeinsamen Masterplan. Dieser dient als Grundlage für Ihr Projekt, das eine öffentliche Nutzung beherbergt. Aula, Bibliothek und Museum, Tanz, Musik und Theater, eine Kantine, Kinderbetreuung und ein Ruderclub sowie Räume für Freizeit und Spiel sind die Programme, für die es einen adäquaten Raum zu schaffen gilt. Wir haben dabei die einmalige Möglichkeit, uns mit einer neuen Kategorie von Aussenraum innerhalb von bestehenden Bauten auseinanderzusetzen, ja – den Aussenraum neu zu denken und zugleich die Grenzen der Bestandesbauten zu durchbrechen. Wie können Freiräume in den Baubestand eingreifen? Kann dieser gar öffentliche Aussenräume oder ‘Gärten’ beherbergen? Wir testen, wie die bestehenden Bauten Nutzungen aufnehmen können, welche den öffentlichen Raum bespielen. Wir untersuchen das Verhältnis zwischen Parkfläche und Fussabdruck der Bauten und beschäftigen uns mit der Frage, wie öffentliche Programme in der Vertikalen funktionieren. Im Zentrum unseres Entwurfssemesters steht die intensive Verbindung zwischen Innen-, Aussen- und Zwischenraum. Nicht zuletzt soll das Areal aus seiner heutigen Insellage befreit werden und dabei sowohl den Bezug des Dorfs zum See hin ermöglichen als auch eine neue Zentrumsfunktion am rechten Ufer des Zürichsees erfüllen.

Was bleibt?
„Alles ist Umbau“ lautet der Titel eines Aufsatzes von Herman Czech. Baugeschichte, Stadt und selbst Architektur unterliegen einem permanenten Umbauprozess – jede Erkenntnis beruht auf reflektierten Erfahrungen. „Ein Umbau geht an die (Bau-) Substanz, indem er sie in Frage stellt – aber eben nicht, indem er sie beseitigt“. Der Bestand ist also weder unantastbar, noch stiller Hintergrund, sondern der Stoff, aus dem Neues entsteht.
Die Beschäftigung mit dem Bestand ist kein nostalgischer Blick zurück. Im Gegenteil, an den Widersprüchen und an der Reibung zwischen unterschiedlichen Zeiten, Denkweisen und Nutzungen entzündet sich Neues und Überraschendes. Diesem Spannungsfeld wollen wir uns aussetzen und bearbeiten deshalb bewusst ein Areal mit Infrastrukturbauten, welche eine grosse Eingriffstiefe erlauben. Betrachtend und zeichnend finden wir heraus, was die atmosphärische Dichte des Ortes ausmacht und welches Mass an Transformation sie erlaubt.

Besichtigung des Fabrikareals
Gemeinsame Begehung des Bauplatzes am Dienstag, 17.09.19:
Entsprechendes Schuhwerk, der Witterung angepasste Kleidung und Stirn-/Taschenlampen mitbringen!

10.00 Uhr: Einführung im Zeichensaal
13.00 Uhr: Schifffahrt nach Uetikon ab Bürkliplatz
19.00 Uhr: Ausklang mit Apéro vor Ort

Jahreskurs – Ausblick FS20
Sind im 3. Semester der grössere Massstab des Areals, der Umgang mit bestehenden Strukturen und die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen öffentlichen Nutzungen die wesentlichen Themen, so drehen wir die Perspektive im 4. Semester um. Wir lernen das Areal aus einem ganz anderen Blickwinkel kennen und setzen uns mit dem Thema des Wohnens in Seenähe auseinander. Dabei nutzen Sie Ihre im Herbstsemester erworbenen Erkenntnisse und wählen den Bauplatz auf dem Areal selbst.
Mit der örtlichen Situation bereits vertraut, können Sie sogleich in die spezifische Thematik des Wohnens eintauchen und sich mit Innenraum und Fassade, mit Materialität, Atmosphäre und Detail befassen. Dabei vertiefen Sie Ihr Wissen über das Wohnen aus dem ersten Studienjahr.
Wir befassen uns im Laufe des 2. Studienjahres intensiv mit Zeichentechnik, Plangraphik, Collage, Modellbau und Fotografie. Die unterschiedlichen Werkzeuge, Techniken und Darstellungsmittel beeinflussen den Entwurfsprozess auf spezifische Art und Weise und bilden die Basis zur Entwicklung Ihrer persönlichen Handschrift.
Über den gesamten Jahreskurs spannen wir somit einen Bogen vom Massstab 1:1000 bis 1:10, von der Struktur zum Detail, von der öffentlichen Nutzung zu neuen Wohnmodellen. Durch die Arbeit an einem Areal im Werden erhalten Sie die dabei Gelegenheit, Ihre Gedanken und Konzepte anhand der zukünftigen Entwicklung zu überprüfen.


  • Fatti urbani: Nach Aldo Rossi sind urbane Artefakte Bauten oder Teile einer Stadt, die Ihre ursprüngliche Funktion verloren haben, jedoch durch ihre Form auf eine Vergangenheit verweisen und dadurch als Gedächtnisträger fungieren.
1908 02 M Fd 38 1907 03 M Fd 06 1907 03 M Fd 54 1907 03 M Fd 41 1908 02 M Fd 16 1908 02 M Fd 54 1907 03 M Fd 04 1908 02 M Fd 35 1908 02 M Fd 48 1908 02 M Fd 72 1908 02 M Fd 99 1908 02 M Fd 129