Entwurf III HS17
In jedem Haus steckt ein neues
Die ersten Schriften in der Geschichte schrieb man als Palimpsest auf Pergament. Palin: „wieder“ und psaein: „abschaben“ – Texte wurden immer wieder ausradiert und überschrieben, denn Schreibmaterial war kostbar. Ähnliches passiert in der Architektur: Der Bestand wird zunehmend grösser, die Ressource Land immer knapper. Das Umdeuten von bestehenden Strukturen beschreibt künftig eine der Hauptaufgaben des Architekten.
Die Betrachtung der Landschaft als Palimpsest (André Corboz) lässt sich auch auf die Architektur übertragen. Hinter jedem Bautyp stehen unzählige, wieder ausradierte und überschriebene Vorgänger. Gerade überraschende Neuerungen sind oft auf den „Fundamenten“ von anderen Bauten oder durch Nutzungsänderungen bekannter Bauformen entstanden.
„Alles ist Umbau“ lautet der Titel eines Aufsatzes von Hermann Czech. Baugeschichte, Stadt und selbst Architektur unterliegen einem permanenten Umbauprozess – jede Erkenntnis beruht auf reflektierten Erfahrungen. „Ein Umbau geht an die (Bau-)Substanz, indem er sie in Frage stellt – aber eben nicht, indem er sie beseitigt.“ Der Bestand ist also weder unantastbar, noch stiller Hintergrund, sondern der Stoff, aus dem Neues entsteht.
Die Beschäftigung mit dem Bestand ist kein nostalgischer Blick zurück. Im Gegenteil, an den Widersprüchen und an der Reibung zwischen unterschiedlichen Zeiten, Denkweisen und Nutzungen entzündet sich Neues und Überraschendes. Diesem Spannungsfeld wollen wir uns aussetzen und haben in Zürich bestehende Infrastrukturbauten gewählt. Bauwerke, die dem Verkehr, der Energiegewinnung, der Lagerung und Verarbeitung dienten. Unser Programm aber heisst Wohnen – nicht im bewährten Siedlungsraster, sondern auf den durch die jüngste Stadtentwicklung freiwerdenden Brachen.
Der heutige Wohnungsbau ist reich an Varianten, die grundsätzlichen Typen aber sind vergleichsweise stabil und echte Neuerungen rar, die Spielräume stark durch die äusseren Rahmenbedingungen der jeweiligen Generation bestimmt. Der Wiener Architekt und Architekturtheoretiker Friedrich Achleitner hat über den Wohnungsbau gesagt, die Erschliessungszone sei der einzige Bereich, indem noch Innovationen möglich seien. Diesem spezifischen Raum schenken wir besondere Aufmerksamkeit; dem Schwellenbereich zwischen Innen und Aussen, zwischen privat und öffentlich, Eigenem und Kollektiv, zwischen Haus und Stadtraum. Aber auch das Hinterfragen gesellschaftlicher Konventionen, die den Wohnungsbau stark prägen, bildet Teil unserer Betrachtungen. Auch da sind ein erfinderischer Geist und zugleich ein kritischer Blick auf die gängigen Wohnstandards gefragt.
Neben der Auseinandersetzung mit dem Programm wollen wir uns ebenfalls ein Verständnis für Eingriffstiefen auf den Ebenen Rohbau, Ausbau und Installationen erarbeiten. Dabei diskutieren wir mit jedem Schritt die Sinnhaftigkeit der Überformung sowie den Massstab, der vom städtischen Erdgeschoss bis zur Fassadengestaltung reicht.
Dabei steht uns die bestehende Struktur für unsere Entscheidungen Pate, denn – so Hermann Czech: „Jeder Entwurfsvorgang beinhaltet Festlegungen, die von nachfolgenden Gedanken entweder akzeptiert oder umgestossen werden müssen. [...] wobei es nicht unbedingt leichter fällt, eine eigene Vorentscheidung wieder aufzugeben als einen existierenden Bauteil zu entfernen.“
Im bewussten Umgang mit der Struktur schärfen wir unsere räumlichen Leitideen. Unsere spezifische Vorstellung vom Wohnen unterstützen wir hierbei durch eine klare Strategie im Umgang mit der Materialität und entwickeln eine eigene atmosphärische Aussage im Spannungsfeld zwischen alt und neu.